Um den Sozialstaat ranken sich viele Mythen. Einige halten sich hartnäckig. Zum Beispiel, ob sich zu viele Menschen auf dem Sozialstaat ausruhen, die Sozialausgaben überhaupt noch zu stemmen sind oder nur arme Menschen von Sozialleistungen profitieren. Wir klären auf.
Der Sozialstaat hat eine lange Tradition und setzt sich aus verschiedenen Sozialleistungen zusammen.
In den nächsten Jahren kommen auf die Sozialpolitik große Herausforderungen zu.
Annahme 1: Viele Menschen ruhen sich auf dem Sozialstaat nur aus
Das Klischee, dass viele Menschen träge sind und sich auf dem Sozialstaat ausruhen, hält sich seit Jahrzehnten. Sagen wir mal so: Durch sozialstaatliche Regelungen kann es zu Fehlanreizen kommen. Einzelfälle gab und gibt es immer wieder. Die sogenannte soziale Hängematte – die verbreitete Annahme, dass Menschen vorwiegend nichtsnutzig herumlungern, keiner Arbeit nachgehen und das Sozialsystem ausnutzen – ist jedoch eher eine Verzerrung der Wirklichkeit.
Bei den meisten Menschen in Deutschland ist der Zustand der Arbeitslosigkeit nur ein kurzfristiger. Jeden Monat verlieren einige Hunderttausend Beschäftigte ihren Job. Gleichzeitig finden etwa ebenso viele Arbeitslose jeden Monat eine neue Anstellung.
Sind Langzeitarbeitslose Müßiggänger oder Müßiggängerinnen?
Wenn überhaupt, müsste man Müßiggängertum wohl eher unter den Langzeitarbeitslosen und damit vorrangig unter den Empfängerinnen und -empfängern von Bürgergeld vermuten. Zwar sind nicht alle Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld langzeitarbeitslos, eine längere Bezugsdauer kommt hier aber häufiger vor.
Ist Faulheit das Vermittlungshemmnis Nr. 1?
Die Liste von Gründen, warum Menschen langzeitarbeitslos sind, ist lang. Jeder Grund verringert deutlich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) errechnet haben. Bei fünf oder mehr Hemmnissen sei die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, gleich null. Rund 90 Prozent der Langzeitarbeitslosen weisen mindestens ein Vermittlungshemmnis auf, viele von ihnen sogar mehrere. Das fängt bei einer fehlenden Ausbildung oder einem abgebrochenen Schulabschluss an. Viele Menschen haben zudem gesundheitliche Einschränkungen, sind älter als 50 Jahre oder alleinerziehend. Auch ein Migrationshintergrund verbunden mit schlechten oder fehlenden Deutschkenntnissen ist häufig ein Hindernis für einen Job. Faulheit steht hier also nicht an erster Stelle.
Darüber hinaus gehen viele der Bürgergeld-Empfängerinnen und -empfänger mindestens 15 Stunden pro Woche einer nützlichen Tätigkeit nach, erziehen Kinder unter sieben Jahren, bilden sich weiter, befinden sich in einer Fördermaßnahme oder pflegen Angehörige. Dennoch reicht das Geld zum Leben meist nicht aus – sie müssen aufstocken. Das heißt aber auch, nur ein gewisser Anteil muss aktuell nach Arbeit suchen. Von denen bemüht sich die große Mehrheit tatsächlich um einen Job, hat eine Befragung des IAB gezeigt. Ein weiteres Gegenargument für die vermeintliche Faulheit der Langzeitarbeitslosen.
Soziale Leistungen sind selten umsonst
Wer Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld bezieht, hat ein Recht darauf, weil er oder sie vorher Beiträge in ausreichender Höhe und Dauer eingezahlt hat – in diesem Fall in die Arbeitslosenversicherung. Soziale Leistungen gibt es also fast nie umsonst.
Zudem sind die meisten Sozialleistungen an strenge Bedingungen geknüpft. Wer beispielsweise ohne wichtigen Grund einen angebotenen Job ablehnt, erhält eine Sperre seines Arbeitslosengeldes, die bis zu zwölf Wochen andauern kann.
Annahme 2: Ein Sozialstaat befördert Missbrauch
In Einzelfällen ist das sicher richtig, aber …
Laut Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, ist die Sachlage hinsichtlich Sozialbetrugs vor allem in reicheren Ländern eine andere als häufig vermutet wird. Geschätzt beträgt die Betrugsrate in Ländern wie beispielsweise den USA, Großbritannien, Irland oder Kanada lediglich 2 bis 5 Prozent des Gesamtbudgets des Sozialsystems – eine verkraftbare Summe.
Fazit: Der Hang zu Faulheit, Müßiggang und Missbrauch steht bei Weitem nicht an vorderer Stelle, wenn es um die Inanspruchnahme von Sozialleistungen geht.
Der Sozialstaat hat in Deutschland eine lange Tradition
Die Idee, dass der Staat auch Verantwortung für die soziale Sicherung seiner Bürgerinnen und Bürger übernimmt, hat hierzulande eine lange Tradition. Bereits ab 1883 wurden in Deutschland Sozialversicherungen eingeführt: zuerst die gesetzliche Krankenversicherung, dann die Unfallversicherung und schließlich die Rentenversicherung. Diese Versicherungen waren von Beginn an beitragsfinanziert und sind es auch heute noch.
Nach und nach sind weitere gesetzliche Versicherungen hinzugekommen, die beispielsweise bei Jobverlust, Unfall, Arbeitsunfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit einspringen und im Alter eine Rente zahlen. Diese Versicherungen sind meist bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe verpflichtend, können über die Pflichtgrenze hinaus aber auch freiwillig fortgeführt werden. Zusätzlich finanziert der Staat soziale Leistungen wie Kinder- und Erziehungsgeld, Wohngeld und Hartz IV aus eigener Kasse.
Das Sozialstaatsgebot, die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, ist im Grundgesetz verankert. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung)
Annahme 3: Das Sozialsystem unterstützt nur arme Menschen
Das stimmt nicht. Der Sozialstaat nützt so gut wie allen Menschen, die darin leben. Er sichert gegen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensrisiken ab und wirkt präventiv. Weit über 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind durch ihn gegen die Standardrisiken wie Jobverlust, Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall oder Pflegebedürftigkeit geschützt. Der Sozialstaat trägt auch dazu bei, dass Kinder kostenlos zur Schule gehen dürfen oder Erwachsene studieren können. Familien werden durch diverse Leistungen entlastet und gestärkt. Praktisch niemand in Deutschland wird heutzutage vom Sozialstaat nicht mehr erfasst. Ohne Sozialstaat wäre fast die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland von Armut bedroht.
Annahme 4: Die Sozialausgaben steigen kontinuierlich an
Das ist im Grunde richtig. Die Sozialausgaben des Bundes stellen den mit Abstand größten Ausgabebereich des Bundeshaushalts dar. Die Sozialleistungsquote – das ist der Anteil der Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), der für rechtlich geregelte Sozialleistungen ausgegeben wird, stieg ab 1960 von 20,9 Prozent bis 2010 auf 30 Prozent.
In den vergangenen zehn Jahren blieben die Sozialausgaben in Deutschland mehr oder weniger konstant und kletterten ab 2019 erstmals seit 2010 wieder über die 30-Prozent-Marke.
Da im Jahr 2009 erstmalig die Grundleistungen der privaten Krankenversicherung berücksichtigt wurden, sind die Sozialleistungsquoten vor und ab 2009 allerdings nicht miteinander vergleichbar.
Auch die Corona-Pandemie machte sich bei der Sozialleistungsquote bemerkbar. Die Sozialausgaben erreichten im Jahr 2022 mit 34,9 Prozent einen historischen Höchststand. Vor allem die millionenfache Auszahlung von Kurzarbeitergeld, das Programm der Überbrückungshilfen und der nötige Ausbau des Gesundheitswesens trugen dazu bei.
Die Bundesregierung erstellt einmal pro Legislaturperiode einen Sozialbericht über die in Deutschland in einem bestimmten Zeitraum erbrachten Sozialleistungen und deren Finanzierung.
Zusammensetzung der Sozialleistungen in Deutschland
Das Sozialbudget wird überwiegend aus Sozialbeiträgen der Bürgerinnen und Bürger (Arbeitgeber und Versicherte) finanziert. Im Jahr 2020 waren das mit 739,5 Milliarden Euro rund zwei Drittel (64,2 Prozent) der aufgebrachten Mittel. Die zweite große Finanzierungssäule kommt vom Staat. Im Corona-Jahr 2020 machte der staatliche Zuschuss 34,1 Prozent aus. Die restlichen Einnahmearten sind quantitativ wenig bedeutsam. (Sozialbericht 2021)
Annahme 5: Die Sozialausgaben explodieren und können nicht mehr gestemmt werden
Nähern wir uns dieser Behauptung von mehreren Seiten an.
Teuer ja, aber …
Es ist nicht zu leugnen, ein gut funktionierender Sozialstaat kostet viel Geld. Setzen wir die Sozialausgaben ins Verhältnis zum BIP, sind wir von einer Explosion der Sozialausgaben allerdings weit entfernt.
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell geht in einem Kommentar noch einen Schritt weiter und wirft die Frage auf, ob der Anteil der Sozialausgaben in den letzten Jahren sogar hätte noch höher ausfallen müssen.
Bereits seit 2010 gebe es immer mehr Rentnerinnen und Rentner, wodurch die Gesundheits- und insbesondere die Pflegeausgaben aufgrund der demografischen Entwicklung stiegen. Es gab darüber hinaus Milliardenausgaben für den Ausbau der Kindertagesbetreuung oder die fluchtbedingte Zuwanderung nach Deutschland.
Dass es trotz allem gelungen sei, den Anteil der Sozialleistungen gemessen am BIP – den Einachlag der Coronakrise lassen wir hier raus – relativ konstant zu halten, könne nur darauf zurückzuführen sein, dass gleichzeitig in bestimmten Sozialleistungsbereichen gekürzt wurde und/oder das BIP entsprechend gewachsen sei.
Die Vorteile des Sozialstaats
Die Investitionen in den Sozialstaat sind immer auch Investitionen in die Zukunft. Menschen, die soziale Sicherheit genießen, sind in der Regel gesünder, leben länger und haben bessere Bildungsmöglichkeiten.
Durch eine in einem gewissen Rahmen sozialpolitisch erwünschte Umverteilung können soziale Spannungen entschärft werden. Familien profitieren von öffentlich finanzierten Kinderbetreuungs- und Pflegeeinrichtungen und bekommen dadurch die Möglichkeiten, wieder am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Darüber hinaus treten Straftaten in gut ausgebauten Sozialstaaten seltener auf als in Ländern, in denen das soziale Netz weniger gut funktioniert, wie es Olivier De Schutter betont.
Nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass sich die vielfältigen Systeme der sozialen Sicherheit einmal mehr bewährt haben und sich dadurch beispielsweise die finanzielle Situation vieler Menschen stabilisieren konnte. Ohne die Absicherung des Sozialsystems hätten große Teile der Bevölkerung plötzlich vor dem Nichts gestanden.
Das System der sozialen Sicherung
- Beamtenversorgung: Pensionen
- Transfers und Steuerentlastungen: Familienleistungsausgleich wie Kindergeld und Kinderfreibeträge; Elterngeld; Wohngeld; Ausbildungsförderung
- Grundsicherung: Bürgergeld; Sozialgeld; Sozialhilfe
- Sozialversicherung: Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung
Abwägung von Kosten und Nutzen
Die Kosten sowie der Nutzen des Sozialstaates sind zu bilanzieren. Die Höhe und Entwicklung von Sozialausgaben ist kein reines Kostenproblem. So stehen den Aufwendungen für die soziale Sicherheit Leistungen gegenüber, die für die jeweiligen Leistungsempfängerinnen und -empfänger mit einem Zufluss von Einkommen einerseits und der Nutzungsmöglichkeit sozialer Dienste und Einrichtungen (z. B. Kinder- und Jugendhilfe, Tageseinrichtungen, Altenhilfe) andererseits verbunden sind, wie das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ) schreibt. Die sozialen Dienstleistungen tragen wiederum dazu bei, die Arbeitsmarktchancen für zahlreiche Gruppen der Bevölkerung nachhaltig zu stärken.
Rückflüsse an den Staat kommen beispielsweise auch von den Rentenbezieherinnen und -beziehern und deren Erben. Diese geben die ausgezahlten Renten meist wieder aus bevor sie sterben. Woraus wiederum Beschäftigungsmöglichkeiten geschafft werden, aus denen Steuern und Sozialabgaben an den Staat zurückfließen. Damit werden ganze Wirtschaftszweige wie der Einzelhandel finanziert, argumentiert Sell.
Herausforderungen des Sozialstaats
Der Sozialstaat steht durch tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft in Zukunft vor großen Herausforderungen. Dazu gehören unter anderem der demografische Wandel und die Alterung der Gesellschaft.
Sozialstaatliche Leistungen in Deutschland sind in den letzten Jahren immer mehr ausgebaut worden. Vor allem im Bereich der Rente ist das zu beobachten. Dazu gehören die Rente ab 63 Jahren, die Mütterrente und die kürzlich beschlossene Einführung der Grundrente. Die Zahl der Rentenempfängerinnen und -empfänger wird kontinuierlich ansteigen. Ausgaben für die Rentenversicherung werden unter diesen Bedingungen expandieren. Diese wiederum müssen aus Steuern finanziert werden. Das geht mit Kosten einher, die mit zunehmender Höhe der Besteuerung überproportional wachsen, erklärt ifo-Präsident Clemens Fuest . Bereits heute beträgt der jährliche Zuschuss zur Rentenversicherung knapp ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts.
Höhere Steuern können zu Ausweichreaktionen führen, so Fuest. Die Bereitschaft zu arbeiten oder zu investieren sinke mit wachsenden Steuerlasten. Sind die Steuerlasten in einem Land im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch, könne es vorkommen, dass Unternehmen und Menschen mit hohen Einkommen oder Vermögen abwandern.
Mit der Alterung der Bevölkerung werden neben der Rentenversicherung auch die Ausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung überproportional steigen. Darüber hinaus werden die Pensionen für Beamtinnen und Beamte die öffentlichen Haushalte immer stärker belasten.
Die Coronakrise war mehr als ein wirtschaftlicher Schock
Auch aufgrund der Folgen der Coronakrise wurde die soziale Absicherung vielfach in Anspruch genommen. Die Politik hat Milliarden ins System gepumpt. Beispielsweise gingen zwischenzeitlich für mehr als zehn Millionen Menschen Anträge für Kurzarbeitergeld ein. Auch der Ausbau des Gesundheitswesens hatte höchste Priorität und kostete ein Vermögen. Neben der Aufstockung der Betten in den Intensivstationen der Krankenhäuser wurden in großen Mengen Schutzkleidung, Atemmasken, Medikamente und Beatmungsgeräte angeschafft. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erhalten Überbrückungshilfen, um ihre stark sinkenden Umsätze und die laufenden Kosten wie etwa Mieten oder Leasingraten weiter bezahlen zu können. Bei all diesen Ausgaben für soziale Leistungen ist es eine berechtigte Frage, wo die Grenze der sozialstaatlichen Absicherung liegt?
Die Sozialpolitik ist gefordert
Um für ausreichende soziale Sicherheit zu sorgen, muss der Sozialstaat dauerhaft die Finanzierbarkeit der Sozialleistungen sichern. Ist das nicht der Fall, kann es durchaus zu einer wirtschaftlichen Überforderung kommen. Das Hauptaugenmerk der Sozialpolitik wird zukünftig auf der Finanzierbarkeit des deutschen Rentensystems und der Bewältigung der Kostensteigerungen im Kranken- und Pflegeversicherungswesen liegen müssen.
Letztendlich bleibt das gewählte Ausmaß an sozialer Absicherung eine politische Entscheidung. Wie der Sozialstaat mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen wird, welche Vorkehrungen getroffen werden, um die Grenzen des Sozialstaats nicht zu überschreiten, wird Aufgabe der kommenden Bundesregierung sein.